Eröffnungsrede zur Ausstellung Bettina Thierig, alte Kornbrennerei Krummesse

Begrüßung/ Einleitung

Ich habe heute die ehrenvolle Aufgabe und vor allen Dingen auch das große Vergnügen, Ihnen einige Hinweise zur künstlerischen Vorgehensweise von Bettina Thierig zu geben. Bettina Thierig ist Bildhauerin und zwar durch und durch. Das ist zugegebenermaßen leicht gesagt, es ist für mich aber auch ein wichtiger Satz und bedarf genau deshalb auch einer näheren Betrachtung. Bettina Thierig ist diese Vollblutbildhauerin, weil sich ihr bildnerisches Denken in erster Linie um die Herstellung von Volumen und um die rhythmische Anordnung von Volumen dreht.

Volumen

Volumen meint zunächst einmal das Gegenteil von Fläche, das Gegenteil von Zweidimensionalität. Ihre Körper setzen sich auch nicht aus architektonisch gefügten Flächen zusammen – auch so können ja dreidimensionale Körper entstehen. Es handelt sich vielmehr um rundum gearbeitete, fast schon kernhafte Gebilde. Sie können im Detail – ich betone im Detail – sowohl an gewachsene, zum Platzen gespannte, Früchte als auch an gedrechselte Möbelstücke erinnern. Das kommt vielleicht daher, dass Bettina Thierig ihren Figuren immer so viel Volumen wie möglich gibt. So fallen zum Beispiel die Außengrenzen ihrer Skulpturen an vielen Punkten mit den Außengrenzen des jeweils bearbeiteten Steinblocks oder Holzstamms zusammen. Es entseht eine raumgreifende und raumschaffende körperliche Präsenz, die uns auch auf unsere eigene Körperlichkeit verweist. Immer ist es der Vorgang des rundum Bearbeitens, des Abtragens, des Behauens mit Klüpfel und Meißel oder des Beschneidens - zum Beispiel mit der Motorsäge - der diese starke körperliche Präsenz und energiegeladene Wirkung erzeugt.

Zeichnung

Auch die Zeichnungen sind durch und durch bildhauerisch angelegt: Vereinfacht ausgedrückt, könnte man sagen, die gezeichnete Linie entspricht einem Umreißen der imaginären Skulptur, einem Umfahren des in der Vorstellung und auf dem Papier entwickelten Volumens. Viele Linien lassen sich sogar als imaginäre Arbeitsspuren deuten. Die Zeichnung vollzieht dann den Vorgang des Meißelns, des Sägens oder des Schneidens nach oder denkt ihn voraus. (Die Kante des Meißels hinterlässt beim Behauen des Steins einen Grat, der der gebogenen Linie auf dem Papier entspricht.)

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So wie der Meißel den Stein zerschneidet und unwiderruflich verändert,

so stellt auch die gezeichnete Linie einen Einschnitt auf dem weißen Papier dar. Ein Einschnitt der einerseits Volumen umschreibt und der andererseits nicht wieder zurück genommen werden kann.

Das bedeutet, dass der Herstellungsprozess der Zeichnung kontinuierlich reflektiert werden muss und ein Dialog mit dem Papier und mit dem nach und nach sich vervollständigenden Liniengefüge entsteht. Jede Linie ein Einschnitt, jeder Schnitt eine Störung, eine Verletzung, ein Gewicht, das nach Ausgleich verlangt.

Dabei ist jeder Liniezug gleich bewertet. Es gibt keine Hierarchie im Bildgefüge. Zwischen Binnen- und Außenlinie nicht und noch nicht einmal zwischen Figur und Grund, denn auch das Bildformat ist bewusst gewählt und körperlich oder räumlich gedacht und beansprucht an jeder Stelle unsere Wahrnehmung. Das zweidimensionale Papier kann zum Beispiel für das Format eines imaginären Steinblocks oder für eine gedachte räumliche Situation stehen. Die Papierflächen, die nicht unmittelbar zur Figur gehören, werden gleichberechtigt in die Zeichnung einbezogen und bilden wie bei einem Relief oder bei einem Holzschnitt ein Gegengewicht zur dargestellten Figur. So gesehen könnten die Zeichnungen auch als Vorlagen für neue Skulpturen, Reliefs oder Holzschnitte dienen, denn sie bieten alle Informationen, die es braucht, um sie für die Arbeit an einem Steinblock, an einem Holzstamm oder an einer Holzplatte verwenden zu können.

Es gibt aber noch einen anderen wichtigen Aspekt, der immer wieder in der künstlerischen Arbeit von Bettina Thierig eine Rolle spielt: Es sind die Zeichnungen, die neben der volumenbeschreibenden Linie auch ein sich ornamental verselbständigendes Liniengefüge zeigen. Ein Liniengefüge also, dass sich auf der Oberfläche der gezeichneten Figur verselbständigt und zu einem strömenden, manchmal vibrierenden Muster zusammenfindet. Auch hier kann es direkte Anklänge an die bildhauerische Arbeit geben. Dann sind die imaginären Arbeitsspuren des Meißels nicht nur in einem spannungsvollen Rhythmus über die gesamte Figur verteilt, sondern sie finden sich zu einem fast schon ornamentalen Muster zusammen, das alle skulpturalen Vorgänge ignorierend oder sogar gegen sie arbeitend einen starken Kontrast zur raumbeherrschenden Körperlichkeit der Figur darstellt. Auch so kann man extrem fesselnde Spannung erzeugen.

Auch das Mosaik aus farbigen Papierfetzen, das wir hier in der Ausstellung sehen, hat – auch wenn es zunächst nicht so scheinen mag

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- Ähnlichkeit mit diesem Vorgang: Statt der Linie wird nun ein Papierfetzen als gestalterisches Modul verwendet und der - immer noch sehr bildhauerisch gedachten und deshalb sehr, sehr körperlich wirkenden - figürlichen Erfindung entgegengesetzt.

Farbe

Beim Mosaik kommt auch Farbe ins Spiel. Farbige Akzente gibt es auch bei den Landschaften, die ebenfalls hier im Raum zu sehen sind und bei den farbig gefassten Skultpturen. Mal zeigt sie sich völlig ohne Bezüge zu Licht und Schatten als architektonisches Muster, mal trifft sie als malerisch-gestisches Ereignis auf die Figur. Bei den Landschaftszeichnungen, die wir hier vor Ort sehen können, spielen Farbwerte und farbige Muster vor allem eine gewichtende und rhythmisierende Rolle.

Thierig zeigt insgesamt eine sehr große Variationsbreite in der zeichnerischen Auseinandersetzung. In ihren Arbeiten finden wir ebenso akribisch ausgearbeitete Details, wie das zeichnerische Umspielen der figürlichen Vorstellung aber auch die gestische, aus der Bewegung heraus gefundene Form.

Auf Augenhöhe

Die hier ausgestellten Zeichnungen sind eigens für die Räume in der Kornbrennerei Krummesse entstanden. Sie sind direkt an die Balken des Dachstuhls gehängt und verändern die Raumsituation auf sehr ungewöhnliche Weise. Die Art der Hängung bietet die Möglichkeit, zwischen den zum Teil überlebensgroßen Zeichnungen hindurch zu schreiten und sich auf Augenhöhe hin und her zu bewegen. Die dargestellten Landschaften und Figuren können so besonders intensiv in ihrer eigenen leibhaften Wirklichkeit erlebt werden.

Mehrperspektivisch

Die starke körperliche Präsenz der Zeichnungen, die wir hier so unmittelbar erleben können, speist sich u.a. auch daraus, dass die Figuren mehrperspektivisch angelegt sind. Bettina Thierig arbeitet nicht mit der sonst eher üblichen klassischen perspektivischen Verkürzung, wie sie z. B. eine fotografische Zeichnung bieten würde. Als Bildhauerin gibt sie sich nämlich niemals nur mit einem einzigen Blickwinkel zufrieden. Oberansicht, Unteransicht, der frontale Blick, das „Um-die- Ecke-Gucken“, dieses wissen wollen, wie es weitergeht, wenn das Auge an die Grenzen des Sichtbaren gerät, das alles kommt in einer einzigen Darstellung zum Tragen und führen zu einer ganz eigenen – und zwar nach bildnerischen Gesetzmäßigkeiten - geordneten Wirklichkeit. Die Zeichnungen zeigen dabei viel mehr als wir normalerweise von

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einem Standpunkt aus sehen könnten. Es geht darum, den Körper wirklich als körperliches Ereignis erlebbar zu machen und - nicht zuletzt auch durch die Größe der Zeichnungen - eine Begegnung zu ermöglichen. Das Liniengefüge wird nun zu einem Gegenüber, das gleich einem Strömungsfilm - ein bisschen so wie wir das aus der Wetterkarte im Fernsehen kennen - in Bewegung gerät, sich auf der Oberfläche rhythmisch verbreitet und den Blick wandern lässt.

Ein Vorgang, der in unserer durchdigitalisierten Welt sicherlich mehr als nur einen dankenswerten sinnlichen Akzent setzt, sondern die Bedeutung des sinnlichen Erlebens und des vorbegrifflichen Denkens als unverzichtbare Erkenntnisebenen in Erinnerung ruft.

Leibhaftigkeit

Ich glaube, Bettina Thierigs Figuren und Zeichnungen können uns zu einer komplexen Auseinandersetzung mit unserer leiblichen Existenz anregen. Vielleicht auch gerade deswegen, weil ihre gezeichneten Figuren Dinge können, die Menschen eigentlich nicht können: Die scheinbar mühelos und mit heiterer Gelassenheit komplizierte Bewegungen ausführen, die trotz oder aufgrund ihrer voluminösen Fülle mit tänzerischer Eleganz, den Ihnen zugedachten Raum erfassen und in ein unendliches Schweben oder Gleiten geraten können.

Viel Vergnügen

Dank der ungewöhnlichen Ausstellungssituation bleibt uns nun die Möglichkeit diese leibhaftige Begegnung mit den Skulpturen im Eingangsbereich und mit den Zeichnungen hier im Dachstuhl zu erkunden und zu genießen. Ich wünsche Ihnen in diesem Sinne ein komplexes sinnliches Erlebnis und viel Vergnügen.

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