Texte
Dr. Oliver Zybok, Direktor der Obeverbeck-Gesellschaft
Bettina Thierig, Moislinger Gesellschaft
August Rodin hatte den Wunsch, dass seine Bürger von Calais, die im Jahr 1889 geschaffen wurden, mitten auf dem Rathausplatz in Calais stehen sollten, in das Pflaster des Platzes ohne Sockel eingelassen, dem täglichen Leben der Bürger ausgesetzt. Wenn man heute von Kunst im öffentlichen Raum spricht, vergisst man darüber einerseits, dass es solche Kunst in öffentlichen Räumen zu allen Zeiten gegeben hat, andererseits zu unterscheiden zwischen moderner fortschrittlicher Kunst und überkommenen, obsoleten Werken, die kein gemeinschaftliches Bekenntnis zur Kultur darstellen, sondern lediglich der Machtdemonstration einer Obrigkeit dienen.
Das Skulpturenensemble Moislinger Gesellschaft der Lübecker Künstlerin Bettina Thierig, deren Aufstellung am 10. Juni 2015 an der Neubauwohnanlage in der Heinzelmännchengasse in Lübeck-Moisling feierlich begangen wurde, ist keinerlei Machtdemonstration. Auch wenn die vier Figuren bei einer direkten Gegenüberstellung monumental wirken, sehen sie auf dem Dach platziert – mit der Möglichkeit, sie ausschließlich von der Straße, also aus der Froschperspektive, zu betrachten – vornehm zurückhaltend aus. Dies mag an der Leichtigkeit des Kalksteins, des französischen Savonnières, liegen. Die Figuren fügen sich einerseits in das Stadtbild ein, andererseits fallen sie nicht zuletzt durch die dezente Farbgebung auf. Entweder sind Körperpartien wie ein Arm, eine Gesichtshälfte oder Hände bemalt oder es zieren Streifen und geometrische Formen die Körperoberflächen in asymmetrischer Anordnung. Doch bleibt die Steinstruktur im Großen und Ganzen bestimmend. Die Physiognomie der Figuren ist von einer regelrecht stoischen Ruhe geprägt, ganz anders als die oft eher grotesk anmutenden Wesen des Bildhauerkollegen Thomas Schütte. Die Körpervolumina der Figuren sind zwar massiv, aber im Gegensatz zu den Skulpturen einer Niki de Saint Phalle nicht surreal gesteigert. Zwei Frauen, ein Mann und ein Kind sind erkennbar, die Maße entsprechen mit knapp 1 bis 1,82 Meter den normalen Körpergrößen. Mit Ausnahme der ersten Frau, die lediglich im Profil zu sehen ist, blicken alle anderen Figuren frontal in die Ferne, die zweite Frau ganz rechts ist leicht nach links geneigt, ein kompositorisches Element, das die statische Skulpturengruppe auflockert.
Bettina Thierig, die in Hannover geboren wurde und seit dem Jahr 2000 in Lübeck lebt und arbeitet, hat die Figuren zunächst als kleine Wachsplastiken geformt, dann circa fünfzig Zentimeter hohe Steinmodelle angefertigt, um sich dann schließlich in einem lothringischen Steinbruch ans Hauptwerk zu begeben. Zunächst wurden mit einer computergesteuerten Kreissäge einzelne Körperteile grob aus dem Stein gesägt, dann erfolgte in klassischem Sinne mit Hammer und Meißel die Detailbearbeitung durch die Bildhauerin. Mit einem Lastenkran wurde die Skulpturengruppe schließlich auf dem Dach im Nordostbereich des viergeschossigen Teils des Hauses in der Nähe der Attika aufgestellt und verweilt dort seitdem wie ein Wahrzeichen des Lübecker Stadtteils Moisling. In seiner Laudatio zur Einweihung formulierte Björn Engholm treffend, dass die Figuren »das Alte wie das Junge, das Männliche und das Weibliche, das Alteingesessene und das Zugezogene, das Konservative und das Innovative symbolisieren«. Die ganze Vielfalt Moislings sei hier repräsentiert, »eine buntgemischte Gesellschaft, ein Spiegelbild der Gegenwart«. Hier werde die Verschiedenartigkeit als Chance verstanden, als produktive Kraft.
Mit der für eine Platzierung von Kunst im öffentlichen Raum ungewöhnlichen Präsentation des Skulpturenensembles Moislinger Gesellschaft auf dem Dach eines Hauses verfolgt Bettina Thierig die Idee eines unendlichen Raums. Dieser ist schon vor und jenseits aller Metaphysik und Astronomie verführerisch und unmittelbar anziehend. Dieser Raum hat keine Wände. Von uns als »Kunstwerke« bezeichnete Artefakte und Zeugnisse menschlichen Daseins sind nicht nur persönliche Antworten von Künstlern auf existenzielle Fragen, sondern auch in die Welt gesetzte, in den unendlichen Raum entlassene Ideen. Die bestechenden unter ihnen, wie Bettina Thierigs Moislinger Gesellschaft, erweisen sich dabei oft als Gegenentwürfe zum Endlichen und der reinen Befindlichkeit.
Oliver Zybok
LN Zur Ausstellung Bewegte Stille ArtikelLN9:2015 Kopie
Text zur Ausstellung „Bewegte Stille“ in der Galerie Frank Siebert
Rede im Dielenhaus Lübeck zur Eröffnung der Ausstellung „Baumleiber“
Armin Scheid, Köln, 2007: „Eröffnungsrede zur Ausstellung in Krummesse“
Dr. Roswitha Siewert: Eröffnungsrede „Form und Farbe“ Kunstraum 61, Lübeck
Renate L. Bunk: „Zu den Skulpturen, Reliefs und Zeichnungen von Bettina Thierig“
Johannes Knesl, New York: "Über die Arbeiten von Bettina Thierig"
Dr. Benny Priddy, Liesborn: „Skulpturen und Zeichnungen"