.I . --, j;':~~~-+~~
,'" :::.'":fo~~~i Johannes Knesl
{:';~~~"r 1 7. Dezember 1996
C 't,C,
:- ?~" I New York
Über die Ar )eiten~von Bettina Thierig
Seit einiger ZE:. war ich zur Überzeugung gelangt, daß die "traditionelle" Plastik nicht imstande
ist, unseren kör, ;;rlichen Lebensbedingungen des ausgehenden Jahrtausends zu begegnen.
Während die meisten Bildhauer/innen versuchen, der "abbildenden" Plastik neue Energien zu
verschaffen, indem sie die den konventionellen Wahrnehmungsschemata entsprechenden Abbil-
dungen der menschlichen Figur systematischen Formungen unterwerfen oder aber der dargestell-
ten Figur Materialien gegenüberstellen, die der Medienwelt entnommen sind, bleibt Thierig der
klassischen Plastik nahe. Und dabei ist es ihr gelungen, Arbeiten hervorzubringen, die es unseren
Körpern ermöglichen, uns in weitere und freiere Lebensdimensionen zu versetzen.
Die plastischen Qualitäten steuern, das Wesen des Körperhaften direkt an. Die Figuren lassen uns
Gewicht fühlen, ihres und so auch unser eigenes - noch die kleinsten Metallgüsse wiegen deut-
lich wahrnehmbar, wenn man sie ansieht. Mit ihren fest gerundeten Formen stellen sich diese Figu-
ren gegen die Schwerkraft. Dies kann aus einem Bein ein kleines Denkmal der lebenden Mas-
sehaftigkeit machen, die wir selbst sind. Die Hände werden vorerst als eine verallgemeinerte volu-
metrische Form behandelt, aber dann werden gewisse Details gerade weit genug herausgear-
beitet, um die bloße Masse mit der Feinheit auszubalancieren, mit welcher dieses Material sich
in einem Glied und einem Körper mit eigenem Leben artikuliert. Diese Hände wenden sich in
Winkeln zum Körper, die es ihnen erlauben, am Rumpf zu ruhen (und damit dessen Massivität zu
verstärken I, und andererseits sich aber auch vom Körper in selbstgewählten Richtungen weg zu-
bewegen und auf diese Weise den Raum zwischen der Plastik und uns auf eine mehr unterneh-
mungslustige Art und Weise in Anspruch zu nehmen.
Die Figuren werden so gearbeitet, daß sie buchstäblich auf ihren eigenen Füßen frei stehen kön-
nen: Wenn sie in Stellungen plaziert werden, 'für die sie nicht "gemacht" waren, kann die von
ihnen unnachgiebig beibehaltene Haltung uns einen neuen Zugang zu unseren Körpern geben,
die wir sonst nur von unseren normalen Haltungen und Stellungen gegenüber der Schwerkraft ken-
nen.
In den Reliefs treffen die Rundungen der Glieder, die in Stein eingeschnitten sind, durch die tiefen
Schatten, die die fließenden Glieder umgeben, auf die scharfen Kanten der Steinplatte. Und doch
machen auch diese gewichtslosen Glieder, die gegen die rahmenden Oberflächen pulsieren,
ihren Frieden mit den Grenzen, welche die Steinplatte ihrer Bewegungsfreiheit setzt. Die Figuren
bewegen sich in Selbstvergessenheit, frei von Schwere, aber kehren doch aus einer Art von
Schwebe zurück (und bringen damit auch uns zurückl zur Schwere, indem sie den rahmenden
,; Stein anerkennen, der sie auf den Boden bringt.
! Auf ähnliche Weise wird bei den Zeichnungen die Freiheit der Linie im Raum des Blattes benutzt,
um den Linienkörpern freie Bewegung zu ermöglichen, beschränkt nur durch die Beziehungen der
Körper untereinander und die Grenzen des Papiers - was uns instand setzt, etwas Neues über
unsere Körper zu fühlen, hier in unserer Welt der Schwere und Dichte.
Das am häufigsten verwendete Material, Muschelkalkstein aus Frankreich, bietet eine von Pocken-
narben und Spalten belebte Oberfläche, die aber auch genüg~nd Kontinuität hat, um uns die
Haut eines Körpers, der auf unseren antwortet, fühlen zu lassen. Uberdies verbindet die Porosität
der Haut das Innere dieser Festkörper mit dem Raum um sie, öffnet ihre innere Dichtigkeit zur Welt
um sie, macht den Körper leichter und auch verwundbar.
60
:: ..
.
'! ) '~;~~
~ -' ,. -'
~ ... \ ...A"., ~' '~.
I Ich meine, daß diese Plastiken funktionieren, weil sie neue und sub::" ;"rl von Bald ",:\.vi-
) schen Gegenpolen gefunden haben, die nicht in einer höheren Ei.' ,,~!:~, :,,:h auf~ ,pen
~ werden, sondern sich in Beziehung zueinander setzen und damit Lei '!~
;;t;'~~C :j~)t'.:gen unC ~rhal-
ten" .
. . '-c, ""
Es gibt eine Qualitot von tiefer Ruhe und Stille in diesen Plastiken, sie 't:Jben ~.~1 Zentrum tief in
ihrem Inneren gefunden, und doch sind sie voll von Energie, in den Raum aul7~ubrechen. Dies
kann man an der Gesamthaltung und den Stellungen und Lagen der Glieder i.'t~len, ohne daß
einem dramatisch expressive Bilder von Bewegung an den Kopf geworfen werOOn. Es lauert eine
besondere, rund ausstrahlende Lebendigkeit im Inneren dieser Plastiken, welche gegen ihr
Gewicht und die begrenzenden Oberflächen anvibriert. Die Figuren nehmen ihren Platz mit einer
gewissen Bescheidenheit ein, aber doch auch mit Selbstsicherheit, ihre Stellungen sind sanft sich
selbst gegenüber und auch gegenüber ihrem Umraum, doch auch stark und beständig. Sie errei-
chen eine Balance zwischen Objektivität, ja, auch Monumentalität, und andererseits Intimität und
persönlicher Qualität. Sie sind hart in der Art und Weise, in welcher sie ihren Raum beanspruchen
und ihr Recht zu ihrem Hiersein, aber sie vermitteln auch Bescheidenheit, Wärme und Mitgefühl.
Während die Gesichter und die Körper jedermanns sein könnten, haben sie doch auch klar per-
sönliche, manchmal sogar pfiffige Züge. Indem diese Körper diese Balancen in sich selbst und in
ihren intensiven Kont9kten mit der Welt um sie erhalten, geben sie uns ein neu es Körpergefühl. Sie
vermögen dies, weil sie nicht in den Dienst, etwas als Bild von etwas darzustellen, gepreßt wer-
den. Anstelle dessen ist es den Figuren gestattet, ihre 'eigene Natur als materielle Artifakte zu ent-
Yfickeln, und es ist genau dies, ihre Andersartigkeit - natürlich zusammen mit ihrer darstellerischen
Ahnlichkeit zu unseren Körpern - was auf unsere Körper zu antworten vermag.
Warum ist das wichtig? Während die Welt verflacht wird zur Flut von Bildern auf all den Schir-
men, vor denen wir so viel von unserer Lebenszeit verbringen, während unser Sehsinn selbst ver-
flacht zur Rezeption von bloßen Bildern, können diese Arbeiten das Potential unserer Körper
erschließen, uns die Vielfachheit der Wirklichkeit und freiere Dimensionen des Lebens zu eröffnen.
Johannes Knesl
17 December 1996
New York
About SettinG Thierig's works
Same time aga I had concluded that 'traditional' sculpture just did not have wh at it takes to adress
our bodily situatedness in the conditions of living at the close of the millenium. While most sculp-
tors attempt to re-energize representational,sculpture by going to systematic morphings of the 'nor-
mal' percepts of the human figure or by positioning it vis-a-vis material taken from the media-made
world, Thierig stays close to 'classical' sculpture. Yet in doing so she has arrived at works that ena-
, ble our bodies to situate us in wider and freer dimensions of living.
11 The sculptural qualities go straight to the core of bodiliness. The figures let us feel weight, theirs
and so our own - even the smallest alloy castings weigh pointedly as one looks at them. In their
/. firmly rounded volumes these figures actively stand up to gravity. This can make a leg into a small
monument of the living massiveness that we are. The hands might first be treated as a generali-
.I zed volumetric form but then certain 'details' are worked out just far enough to balance out the
, 61
i
I
-- ~- ~-~
1,:;;, '~ ~~;9~: ,,_.'-:-,~iii!~ - ,- ~~~:,~
fi,;;::e~'r;r'~', ;:f1~ >w this material articulates itself info a li mb and a body with theirown
;d in angles that let them rest by the trun~ land s~ rein~orce its massi-
V! - ~~~~, ~. also enable them to move away tram thls body In thelr own chosen
d; .)n~, Efl <. - "~"erprisingly to engage the space between the sculpture and ourselves.
Th.. cgures :~;-:~~,fkc. ,r - so that they are able to stand on their own feet: When they are pla-
cec positi\"").1~;::~y \Iv -'. not 'designed' tor, their stubbornly maintained original posture gives us
an r, oN acc( ~ ~ ':'ur b" es whose nature we know only tram our normal postures and positions
vis-a-~:is gravit-y - ',y
In the re!jefs, the..-~Jndness of the limbs cut info the stone encounters the sharp edges left tram the
original slab via the deep shadows which surround the flowing limbs as they pulse against the fra-
ming surfaces. Yet these weightless limbs also make their peace with the limits which the stone
slab sets to their freedom to move. The figures are moving with abandon, free of gravily, but-
tram a kind of suspension - they also return land so return us) to gravily as they acknowleqge the
framing stone that takes them down to the ground.
Similarly, the drawings use the freedom of the line in the space of the sheet of paper to give free
movement to line-bodies, constrained only by each other and the plane and edges of the paper
- which, in turn, enables us to feel something new about our bodies here, in this world of weight
and densily.
The prevalent material, shell-carrying limes tone tram France, otters a surface which is olive with
pockmarks and ritts but also provides enough continuily of surface to make us feel the skin of a
body that responds to our own. Moreover, the po~osily of the skin connects the inferior of these
solid bodies to the space around them, it opens up their inner densily to the world around, ligh-
tens the body, and makes it vulnerable.
I think that these sculptures work because they have found new and subtle forms of balance bet-
ween opposites that are not sublated info same higher unily but engage and sustain one another
and so create and sustain life. There is a qualily of deep rest and calmth in these figures, they
have found a center deep inside, and yet they are full of energy to move out info space. This one
can just feel tram the overall posture and the positioning of the limbs, rather thon having dramati-
cally expressive images of movement thrust at oneself. There lurks a peculiar roundly radiating live-
liness inside the figures wh ich vibrates against their weight and the limiting surfaces. The figures
take their place with modesly but also with self-assurance, their postures are gentle to themselves
and also to their environment yet also forcetul. They reach tor a balance between objectivily, even
monumentalily, and, on the other side, intimacy and personal qualily. They are hard in the way in
which they claim their space and their right to their here-ness but they also bring a sense of humi-
lily, warmth, and compassion with the condition of embodied life. While the faces and the bodies
could be anybody's, they also have distinctly personal, sometimes even whimsical, traits.
As these bodies maintain these balances within themselves and in their intensiv contact with the ;
world around them, they give us new body senses. They have this power because they are not!
pressed info service to represent images of something. Instead the figures are allowed to develop C
their own nature as material artifacts, and it is precisely this, their otherness - together with, to be
sure, their representational similarily to our own bodies - that can answer to our bodies.
Why is this important? As the world has been flattened to a flood of images on all those screens, ?
in front of which we pass more and more of our lives, as our very sense of seeing has been flat-,
I'
tened to the mere reception of images, this work can open up our bodies' potential to situate us
in the 'real' world, let us engage its multiplicity and 'otherness' so that our jives would become :,
freer and more sustainable.
62 J
'.
. ., ~~{' c~
AbbIldungsverzeichnis ., :)n JO::4~:- ~":-. ~":"::: - -~
- - '.
Titel: Hockende Figur, 42 x 24 x 29 cm, Savonniere, 199'.5':l;~j'~'c c. ;,-r'.."'~~ ~.
, ..,~ ~~:;.i' 'i;:"~c:;-.-/
Frontispitz: Stehende Figur, 66x26x 14 cm, Savonniere, 1991 ,tf~~~"";':"'.~}t~-~~~~b~if
, . ,",-.: . '~;-,:~;"". / \;,:;
Seite 4 - 5: Hockende Figur, 42x24x29cm, Savonniere, 199~"'-,,-:, ~-,:::-.';;;J",- i;fl-:1
1 9":f" ",.::! ~,., 'I ~;:
Seite 6: Kopf, 29x33x28 cm, Savonniere, 1994 ~b' .." ,-- ~.,;r:~ '.-
. y '-.""- \-,-'
Seite 7: Kopf, 34x 33 x 30 cm, Savonniere, 1995 .,;.' \
Seite 8 - 9: Zeichnungen, je 21 x 29,5 cm, Bleistift auf Papier, 1994 -;<."-,,:
Seite 1 0 - 11: Zeichnungen, 22,8 x 30,4 cm und 21 x 29,5 cm, Bleistift auf Papier, 1996
Seite 12 - 13: Büste, ca. 50x 39x 18 cm, Savonniere, 1996
Seite 14 - 15: Stehende Figur, 32 x 18 x 12 cm, Savonniere, 1995
Seite 16-17: Stehende Figur, 32x17x12cm, Savonniere, 1995
Seite 18: Stehende Figur, 32 x 17 x 14 cm, Savonniere, 1995
Seite 19: Stehende Figur, 28x 16x 10 cm, Savonniere, 1995 "
,:;-'ci;
Seite 20: Relief, 28 x 15 x6 cm, Savonniere, 1995 ~..
Seite 21: Relief, 27x30x6 cm, Savonniere, 1995
Seite 22: Relief "Schwimmerin", 14x24,5x4,5 cm, Savonniere, 1991
Seite 23: Relief, 22 x 26x6 cm, Savonniere, 1995
Seite 24 - 25: Zeichnungen "Schwimmerinnen", je 21 x 29,5 cm, Bleistift auf Papier, 1996
Seite 26 - 29: Liegende Figur, ca, 24x81 x28 cm, Savonniere, 1996
Seite 30 - 31: Sitzende Figur, 57 x 36 x 39 cm, Savonniere, 1994
Seite 32: Relief, 17x22x5,5 cm, Savonniere, 1991
Seite 33: Ausgeschnittenes Relief, 13x22,5x5 cm, Savonniere, 1993
Seite 34 - 35: Zeichnungen "Coney Island, Brighton Beach", je 21,5 x 14 cm,
Bleistift auf Papier, 1996
Seite 36 - 37: Zeichnungen, je 30,4x22,8 cm, Bleistift auf Papier, 1996
Seite 38 - 39: Farbige Skizzen, 22,8 x 30,4 cm, Gouache und Bleistift auf Papier
Seite 40 - 41: Liegende Figur, 17x36x 16 cm, Ton, 1991
Seite42-43: Liegende Figur, "Chac-mol", 17x36x16cm, Savonniere, 1995
Seite 44 - 45: Zeichnungen "Schwebende Figuren", je 29,5x21 cm,
Bleistift auf Papier, 1996
Seite 46 - 49: Liegende Figur, 20,5 x 34,5 x 15 cm, Baumberger Sandstein, 1991
Seite 50 - 52: Stehende Figur, "Ameise", 68 x 23 x 22 cm, Savonniere, 1994
Seite 53 - 55: Stehende Figur, 65,5x22x21 cm, Savonniere, 1994
Seite 56: Figur auf Gußkegel, 12,5x3,5x4,5 cm,
Metaliguß (Unikat) Chrom Kobalt, Sockel aus Aluminium
63